Das Jahr des Hasen
Nebelschwaden ziehen über die braunen Wiesen und lassen die kahlen Büsche wie unheimliche Wesen auf wattigen Wellen segeln.
Der nahe Waldrand hebt sich mit schwarzen Ästen aus dem grauen Einerlei. Heiser krächzend fliegt eine Krähe auf, zwei weitere folgen ihr. Der Nebel schluckt alle Geräusche.
Es ist Januar, und die Natur scheint sich im Tiefschlaf zu befinden. Viele der heimischen Wildtiere sind tatsächlich in Winterschlaf oder Winterruhe, um dem Mangel an Futter und den Widrigkeiten des Wetters zu entgehen. Andere Tiere sind rechtzeitig in den Süden oder in geschützte Lagen gezogen.
Der Feldhase (Lepus europaeus) zeigt sich davon unbeeindruckt. Er ist von Nordspanien bis zum Ural heimisch; weiter südlich reicht sein Lebensraum von der Türkei bis in die mongolischen Steppen. Eingebürgert lebt er in Südschweden und England, an den nordamerikanischen Seen und im südlichen Südamerika sowie Neuseeland und an der australischen Ostküste. Er liebt trockenes und warmes Wetter und ist in Deutschland fast flächendeckend ansässig. Dabei bevorzugt er offene Flächen in Brach- oder Kulturlandschaften, im Wald ist er selten anzutreffen.
Er ernährt sich rein pflanzlich und sehr vielfältig: Kräuter wie Klee und Löwenzahn, Gräser, Getreide und Feldfrüchte, besonders beliebt sind verschiedene Heilkräuter, die man unter dem Begriff „Hasenapotheke“ zusammengefasst findet. Im Winter nimmt er auch Knospen, Rinde und junges Holz.
Außer an sehr trockenen Tagen trinkt der Hase nicht, er nimmt die erforderliche Flüssigkeit über Pflanzensäfte, Tau und Regenwasser auf.
Grobe Pflanzenfasern verdaut er im Blinddarm, wo lebenswichtiges Vitamin B entsteht. Dieses Vitamin braucht der Hase aber im Magen und nicht im Darm, weshalb er den weichen Blinddarmkot gleich nach dem Ausscheiden wieder aufnimmt und ihn unzerkaut verschluckt. Der übrige Kot ist hart und enthält keine verwertbaren Nährstoffe mehr.
Der Feldhase legt nicht viel Wert auf Gesellschaft von Artgenossen – außer die Zeit der Hasenhochzeit naht und das Gegenüber gehört zum anderen Geschlecht.
Der Hase ist ein Symbol für Fruchtbarkeit, was daran liegt, dass er fast ganzjährig Hasenhochzeit hält. Je nach Region und Witterungsverhältnissen steht die erste im Januar an.
Zwei oder mehr Rammler werben um eine Häsin, springen und rennen über das freie Feld, schlagen Haken und boxen sich mit den Rivalen. Die Häsinnen sitzen nicht etwa als passive Zuschauer am Rand, sondern sind mittendrin, und wenn einer der Rammler zu aufdringlich wird, setzen sie auch ihre kräftigen Vorderpfoten ein, um Abstand zu schaffen.
Das ganze Werbungsspiel sieht aus wie ein hektisches Hin und Her, denn Rammler und Häsin weisen keine äußerlichen Unterschiede auf. Mit der Zeit finden sich jedoch die Paare und widmen sich dem Arterhalt.
Die Tragzeit der Häsin dauert 42 bis 43 Tage, das heißt, im milden Frühjahr ist Anfang März mit dem ersten Wurf von zwei bis vier Hasenkindern zu rechnen.
Die Häsin legt sie an geschützter Stelle ab, manchmal alle an einem Fleck, manchmal an verschiedenen Orten. Dort bleiben die Jungtiere und werden nur zwei- bis dreimal täglich mit sehr gehaltvoller Milch versorgt.
Der Feldhase ist ein Nestflüchter, das heißt, er wird sehend und mit Fell geboren. Zuerst hat er keinen Eigengeruch, was ihn vor Feinden schützt. Das Muttertier steuert die Jungen nie auf direktem Wege an, sondern vergewissert sich, dass sie keine Fressfeinde anlockt.
Die Häsin hat zwar unter normalen Umständen „nur“ drei bis viermal im Jahr Junge, kann aber ab dem 36. Tag der Tragzeit wieder befruchtet werden. Sie trägt dann im einen Gebärmutterhorn die geburtsreifen Föten, im anderen den neuen Keimlingssatz. Ob es dazu kommt, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, unter anderem entscheiden die Witterungsbedingungen, das Nahrungsangebot und andere Umwelteinflüsse. Die Junghasen nehmen früh schon pflanzliche Kost auf und mit etwa 30 Lebenstagen endet ihre Säugezeit.
Die Häsin steht während der Zeit unter großer Beanspruchung. Sie muss ausreichend und ausgewogen fressen, damit der geborene und ungeborene Nachwuchs gut gedeiht, sie verteidigt die Hasenjungen tapfer gegen Feinde und muss dabei Acht geben, dass sie selber überlebt.
Eine intakte Umwelt mit artenreicher Flora ist wichtig; in den großen Monokulturen der heutigen Landwirtschaft ist es schwierig für sie, genug Nährstoffe zu finden. Weniger Hasen werden geboren, das biologische Gleichgewicht der Natur gerät in Schieflage.
Auch das Klima ist entscheidend für das Hasenjahr. Sind Frühling und Sommer kalt und nass, überleben nur wenige Junge.
Der Feldhase hat viele Feinde. Je nach Region sind das Fuchs, Marder und Wildschwein, wildernde Haustiere oder Wildkatze und Luchs, aus der Luft drohen Krähe, Greif, Falke und Eule. Ab April und Mai haben sie vermehrt Nachwuchs zu versorgen. Zum Glück befinden sich nicht nur Hasen auf dem Speiseplan der Beutegreifer, sondern ebenso Kaninchen, Nagetiere, andere kleine Säuger, Singvögel und Reptilien.
Das Wildkaninchen ist kleiner als der Feldhase und nicht mit ihm verwandt. Kreuzungen zwischen den beiden Tieren sind nicht möglich. Das Kaninchen hat zwar einen ähnlichen Körperbau, lebt aber ganz anders als der Feldhase. Es bevorzugt Gesellschaft von Artgenossen, gräbt verzweigte Höhlen und Würfe mit bis zu zehn Jungen sind keine Seltenheit. Die Jungen werden nackt und blind geboren und vier Wochen lang versorgt.
Das Aussehen der beiden Tiere unterscheidet sich ebenfalls. Der Feldhase wiegt zwischen vier und sechs Kilogramm, wirkt dabei schlank und sehnig und hat lange Ohren. Das Kaninchen wird maximal zweieinhalb Kilo schwer und hat deutlich kürzere Ohren. Bis auf das weiße oder hellere Schwänzchen ist es einheitlich graubraun, der Feldhase ist rötlich, bräunlich, grau, hat schwarze Ohrenspitzen und eine weiße Unterseite bis zum kurzen Schwanz. Die unterschiedlichen Fellfarben ermöglichen ihm eine bessere Tarnung in Feld und Wiese.
Er hat große bernsteinfarbene Augen, die seitlich am Kopf sitzen und es ihm ermöglichen, nach hinten zu sehen ohne den Kopf zu drehen. Deswegen sucht er seine Sasse so aus, dass er von ihr aus einen guten Überblick hat. Diese Sasse ist eine Art Sitzplatz, in der er Ruhezeiten zwischen dem Fressen verbringt, es kann eine Bodenunebenheit sein oder eine Furche im Feld. Zum Schlafen kratzt er sich eine versteckte Mulde zwischen hohem Gras oder im Gebüsch. Er nimmt alles wahr, was sich bewegt. Oft stellt er sich auf die Hinterbeine und „macht Männchen“. Genauso kann er sich auf Geruchssinn und Gehör verlassen. Die überwiegende Zeit seines Lebens verbringt der Hase ohne Lautäußerung. Auffällig ist das gellende Klagegeschrei des Hasen bei Verletzungen oder wenn er gefangen wird.
Feldhasen können bis zu zehn Jahre alt werden, die Hälfte aller Hasen erreicht allerdings nicht mal das zweite Lebensjahr. Ähnliche Sterblichkeitsraten gibt es auch bei den Kaninchen.
Obwohl Hase und Kaninchen von ihren lebenslang nachwachsenden Zähnen her aussehen wie Nagetiere, sind sie doch keine. Nagetiere wie zum Beispiel Eichhörnchen oder Ratten halten die Nahrung mit den Vorderpfoten fest, das tun die Hasenartigen nicht. Durch ähnliche Umweltbedingungen wie das Nahrungsangebot haben sich Gebissformen der Hasenartigen und der Nager einander angeglichen. Diese Anpassungen sind bei gleichen Lebensformen überall im Tierreich zu beobachten.
Die Zeit zwischen Frühjahr und Herbst besteht für den Feldhasen hauptsächlich aus immer neuen Hasenhochzeiten, der Aufzucht der Jungen, fressen und sich vor Feinden verbergen oder in Sicherheit zu bringen.
Dafür ist er von der Natur hervorragend ausgestattet worden. Sein erdfarbenes Fell ermöglicht eine gute Tarnung; oft verlässt er erst im letzten Augenblick die Sasse und nutzt so die Überraschung des Feindes, um einen Vorsprung bei der Flucht zu haben. Zugute kommen ihm dabei auch die überproportional lang wirkenden Hinterbeine. In Ruhe hockt er sich darauf oder hoppelt, aber im vollen Lauf katapultieren sie ihn in weiten Sätzen vorwärts. In vollem Lauf erreicht er Geschwindigkeiten von bis zu 70 km/h, und sein Körper ist durch hohe Elastizität und einen exzellenten Gleichgewichtssinn zum Hakenschlagen geschaffen.
Die meisten Jäger verlieren bei den abrupten Richtungsänderungen die Balance, sie zerren oder reißen sich Bänder und Gefäße, was zu Verletzungen im Bewegungsapparat und innerem Verbluten führen kann.
Im Gegensatz zum Kaninchen, das sich immer in der Nähe seiner Höhleneingänge aufhält und beim kleinsten Anzeichen von Gefahr Alarm schlägt, woraufhin die ganze Sippe im Untergrund verschwindet, kann der Hase sich nicht auf ein Versteck verlassen. Er hat große Lungen und ein kräftiges Herz, damit er sein hohes Tempo über lange Strecken halten kann.
Bei der Jagd durch den Menschen hat er eine reelle Chance, der Gefahr zu entkommen. Die Jagdzeit geht von Oktober bis Dezember, jedoch erfolgt die Bejagung unter Berücksichtigung regionaler Verhältnisse. In vielen Gebieten verzichten Jäger auf die Hasenjagd.
An den Vorkommen des Feldhasen ist der Artenreichtum einer Kulturlandschaft messbar.
Noch vor wenigen Jahren stand der Feldhase auf der Roten Liste der gefährdeten Tierarten. Der Bestand hat sich seitdem wieder leicht erholt, doch leben immer noch weit weniger Hasen als vor 40 Jahren in Deutschland. Gründe hierfür sind mehr Straßenverkehr und zunehmende Landschaftszersiedlung sowie die Veränderung der Landschaft durch die moderne Landwirtschaft. Landwirtschaftliche Flächen können unter Einsatz von Pestiziden intensiv genutzt werden. Dies führt zu einer Verarmung der Landschaftsstruktur, was mehrere negative Folgen für den Feldhasen hat: Es fehlt ihm an Verstecken zwischen hohen Gräsern und breiten Wegesrändern mit Hecken und Büschen. Er ist der Witterung stärker ausgeliefert und Beutegreifer können ihn leichter entdecken. Mit der landschaftlichen Vielfalt verschwindet der Pflanzenreichtum, der Feldhase findet weniger Nahrung, die auch in ihrer Qualität nachlässt.
Abhilfe kann geschaffen werden, indem landwirtschaftliche Nutzflächen länger brach liegen und am Rande von Feldern Streifen mit wild wachsenden Pflanzen, den so genannten Ackerrandstreifen, angelegt werden.
Zugleich wird eine Zunahme der Beutegreifer beobachtet, allen voran des Fuchses. Seit die Tollwut in Europa ausgerottet ist, wird er nicht mehr von der Seuche dezimiert und kann sich ungehindert vermehren. Er arrangiert sich mit der Nähe der Menschen, fast hat er schon seinen angestammten Lebensraum Wald gegen die Stadt getauscht. Und seine natürlichen Feinde, Wolf und Bär, passen nicht in unsere aufgeräumte Natur – oder Hirsche, Wisente und andere große Pflanzenfresser, die ihre Hauptnahrungsquelle darstellen.
Solange das alte Gefüge der großen Raubtiere nicht wieder ins Lot gebracht wird, muss der Mensch weiter mithilfe der Jagd die Balance der Nahrungskette zu erhalten versuchen.
Die Verbreitung von Sagen und Legenden über den Feldhasen entspricht etwa seinem Lebensraum.
In vielen europäischen Märchen wird der Hase als freundlicher oder lustiger Geselle beschrieben, dem man nichts vormachen kann. Nur im bekanntesten, dem vom Wettrennen mit dem Igel, kommt der Hase nicht gut weg. Er ist dort zwar sehr schnell, aber nicht besonders intelligent.
In mehreren osteuropäischen Märchen wird die Hasenscharte thematisiert. Bei einer großen Jahresversammlung stellen die Hasen fest, dass sie jedes Leben auf der Erde zu fürchten haben und niemand vor ihnen erschrickt. Sie beschließen, dem jämmerlichen Dasein ein Ende zu bereiten und marschieren gesammelt zu einer steilen Klippe, um sich herunter zu stürzen oder in anderen Erzählungen einem großen See, um sich darin zu ertränken. Auf dem Weg dahin lösen die vielen Hasen eine Panik bei den anderen Tieren aus, woraufhin diese Hals über Kopf die Flucht ergreifen. Das bringt die Hasen derart zum Lachen, dass ihre Lefzen oder Oberlippen zerreißen und sie fortan an ihrer Hasenscharte zu erkennen sind. An den geplanten Selbstmord denken sie danach nie wieder.
Eine andere Legende kennt jedes Kind: die vom Osterhasen, der die Eier bringt.
Vermutlich ist sie entstanden, als ein Mensch ein Feld betrat, das zugleich vom Hasen und einem Bodenbrüter bewohnt wurde. Den wegfliegenden Vogel hat der Mensch nicht beachtet, wohl aber das „elternlose“ Gelege und den flüchtenden Hasen. Schwupp, war er der Bote, der zu Ostern die Eier bringt.
Eine weitere Legende, die sich ebenfalls hartnäckig hält, besagt, dass der Hase mit offenen Augen schläft. Durch Naturbeobachtungen lässt sich das recht leicht entkräften. Der Feldhase hat den Menschen einfach schon wesentlich länger wahrgenommen als der ahnt und schläft demnach nicht mehr, wenn er die Augen öffnet.
Genauso ist der Hase kein Wiederkäuer – auch wenn sein Blinddarmkotfressen dem schon recht nahe kommt.
Es gibt eine Menge Redewendungen und Sprichwörter, die den Hasen zur Hauptperson haben. „Mein Name ist Hase, ich weiß Bescheid!“ So jemand weiß, wo der Hase lang läuft. Manch einer ergreift das Hasenpanier, ein anderer ist ein Hasenherz. (Eingedenk der sportlichen Höchstleistungen, die das Hasenherz erbringt, dürfte das ein feines Kompliment sein!) Und wer es schon lange in seinem Fachbereich aushält und eine Menge Erfahrung hat – ist ein alter Hase.
St. Marty Maus and poor Puh
vor 3 Stunden
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