Freitag, 14. Oktober 2011

zwölfhundertzweiundsiebzig

Vor dir siehst du Eintrag Nr. 1272.
Diese Zahl nehme ich zum Anlass, dir ein wenig über das Jahr 1272 zu erzählen.

Im Jahre 1272 passierten eine Menge Dinge, die du überwiegend hier nachlesen kannst und sicher auch anderswo. Aber hab keine Angst, das hier wird kein langer, trockener Beitrag zum Thema Geschichte, gespickt mit Jahreszahlen von Kriegen zwischen Königen, an die heute nichts mehr erinnert außer einer abgewetzten Grabplatte.
Schließlich liest du gerade nichts aus der Rubrik Lexi + Konn, sondern Lüh + Rik, was dich diesbezüglich beruhigen dürfte.
Denn es geht um Isendal.
Auch über "Isendal" gibt es im Netz eine Menge Dinge zu lesen, aber das ist alles nicht mein Isendal.

Mein Isendal ist so:
Der kleine, untersetzte Mann mit dem dichten roten Vollbart und der Glatze lehnte aus dem Fenster und klemmte die Schlagläden an den Haken fest, die in der Außenwand des Wirtshauses verankert waren. Neben dem gedrungenen Gebäude mit dem strohgedeckten Dach stand eine große Blutbuche, nach welcher die Schenke benannt war. Der „Rote Baum“ war jedem in der Gegend wohlbekannt.
„Gott zum Gruß, Vater Ambrosius!“, rief er dem alten Zisterzienser im schwarzen Habit mit dem weißen Skapulier zu.
„Guten Morgen, Henning“, erwiderte der Geistliche, blieb aber nicht stehen, um ein Schwätzchen zu halten, wie es sonst seine Art war, sondern schritt munter aus. Er ging am gemütlich an den leichten Hang geschmiegten Haus vorbei und nickte grüßend einem jungen Mann zu, der am gegenüberliegenden Ende des Dorfplatzes seine Werkstatt öffnete.
Aus der breiten Haustür der Gaststätte kam eine Frau in den mittleren Jahren. „Seid gegrüßt, Vater Ambrosius“, sagte sie und lächelte.
„Guten Morgen, Edelgard. Sag mal“, hielt er nun doch in seinem raschen Gang inne, „täusche ich mich, oder hast du gesagt, dass du heute Honigkuchen backen wolltest?“
„Ihr täuscht Euch nicht, Vater Ambrosius, Euer Gedächtnis ist nach wie vor einwandfrei. Sie sind noch warm. Möchtet Ihr welche mitnehmen?“ Sie lächelte jetzt noch herzlicher, und ihre grauen Augen strahlten. Dass der Geistliche eine Schwäche für Süßes hatte, war kein Geheimnis.
„Oh, das wäre…“, verzückt schloss er die Augen, „mhmm, das wäre wunderbar. Vielleicht ein paar mehr, dann hat auch der alte Klaas etwas von deinen Künsten.“
„Wollt Ihr solange eintreten?“, bot Edelgard an und wies in den „Roten Baum“. Sie war die Wirtin und hatte die Herrschaft über die Küche und alles, was damit zu tun hatte.
„Neinnein, lass nur. Die Luft ist so frühlingshaft mild, und die Sonne scheint warm, ich bleibe lieber hier draußen, um mich an ihren Strahlen zu erfreuen.“
Währenddessen schlenderte der junge Mann zum Wirtshaus herüber, das – zumindest was die leiblichen Bedürfnisse betraf – der Mittelpunkt Dorfes Isendal war. „Morgen zusammen“, begrüßte er die beiden.
Edelgard nickte ihrem Sohn zu und verschwand im Haus. Kurz darauf kam sie mit einem Teller goldener und herrlich duftender Honigkuchen zurück.
„Toll! Sind die alle für mich?“, fragte der junge Mann begeistert.
„Nichts da, Nano. Kein einziger ist für dich – Finger weg!“, wies sie ihren Sohn zurecht, aber der Geistliche lachte. „Sei nicht so hart zu ihm, er muss doch viel essen, so stark wie er ist.“ Damit hielt er ihm den Teller hin.
„Eben“, fand Nano und nahm mit jeder Hand eins der Küchlein.
„Puh, hast du schwarze Finger!“, bemerkte seine Mutter. „Wäschst du die eigentlich mal am Tag?“
„Bin ich Waschweib oder Schmied?“, grinste er.
„Waschweib jedenfalls nicht“, mischte sich eine weitere Stimme in die lustige Unterhaltung.
Die Anwesenden drehten sich zum Sprecher um, es war Gereon vom Schäferhaus.
Vater Ambrosius reichte ihm freundlich den Teller entgegen. „Wenigstens hast du saubere Finger. Und wo ich dich gerade sehe, hast du heute schon etwas zu tun?“, erkundigte sich der zweitälteste Bewohner des Tals bei dem jungen Mann, der gut einen Kopf größer war als Nano.
„Wenn Ihr mich braucht, habe ich Zeit, Vater Ambrosius“, antwortete Gereon kauend. „Was steht denn an?“
„Ach…“, machte der und winkte ab, „das erklär’ ich dir unterwegs.“ Er nickte den Umstehenden zum Abschied zu. Edelgard schickte ihren am dritten Kuchenstück kauenden Sohn zurück an seinen Arbeitsplatz und ging selber wieder ins Wirtshaus.

Der Dorfplatz hatte entfernt die Form eines Dreiecks mit ungleichen Seiten.
An der kürzesten Seite befanden sich die kleine Kirche und Vater Ambrosius’ Häuschen.
Rechts daneben befand sich ein Weg, der aus dem Tal heraus und damit in fast alle anderen Richtungen führte. Dem Bachlauf der Ise folgend gelangte man zu ein paar weiteren Häuschen.
Wenn man jedoch auf dem Dorfplatz blieb und sich noch ein Stück weiter nach rechts wandte, blickte man auf eine krumme Zeile aus drei eingeschossigen Häusern. Im Einzelnen standen dort das Bürstenmacherhaus und sein Garten, die Böttcherei und die Schmiede. Die ersten beiden Häuser waren etwa gleich groß, die Schmiede war schmal. Alle lehnten aneinander und bildeten einen sanften Halbkreis, sodass man glauben konnte, sie stünden tuschelnd beisammen.
Gegenüber den drei Gebäuden standen in der längsten Seite des Dreiecks das Wirtshaus, das Stellmacher- und das Korbflechterhaus sowie das des Sattlers.
Zwischen dem „Roten Baum“ und dem Stellmacherhaus war ein schmaler Durchgang gelassen worden, dort kam man zu den am Hang gelegenen Gärten. Die nächsten beiden Häuser waren aneinander gebaut, und die Sattlerei stand wieder alleine.
Der Weg zwischen Kirche und „Rotem Baum“ führte zwischen ansteigenden Wiesen und einem plätschernden Bächlein zum Schäferhaus hinauf.
Auf dem Dorfplatz vor der Kirche wurzelte eine mächtige Blutbuche, die an die 200 Jahre alt sein mochte. Ihr gegenüber am spitzen Ende des Platzes befand sich ein Brünnchen mit gemauerter Einfassung. Das Wasser, das aus dem Becken heraus floss, lief durch eine steinerne Rinne über den Platz und durch den Garten, der eigentlich zur Schmiede gehörte, aber von der Böttchersfrau Barbara benutzt wurde.
Die spitzeste Ecke des Dorfplatzes ging an Sattlerei und Schmiede vorbei in einen weiteren Weg über, der das Tal der Ise hinauf und in südliche Richtungen führte.
Hinter der Zeile der drei Häuser floss die Ise entlang. Vom Bach aus hatte man zum Dorfplatz einen Höhenunterschied von geschätzten acht Fuß zu überwinden. Unterhalb der Schmiede wuchsen auf einem ebenen und schmalen Streifen allerhand Wiesenblumen, zwischen den anderen Häusern und dem Bach war mehr Raum.
Hier unten hatten die drei Häuser jeweils eine weitere Tür sowie ein paar Fenster. Da die Keller hin und wieder bei Hochwasser überschwemmt wurden, war hier unten nur das Vieh untergebracht. Nur die Schmiede war so klein, dass kein Raum für Tiere war; Nano Schmied wohnte alleine unter dem winzigen windschiefen Dach.
Nun ist ja immer noch nicht klar geworden, was das alles mit dem Jahr 1272 zu tun hat.
Und doch! Denn diese Geschichte findet anno domini 1272 statt.
Eines Tages, wenn mal gar nichts mehr zu tun ist, ich keinen Garten zu bestellen habe und auch sonst nur Langeweile in der Luft hängt, dann mache ich noch einen weiteren Außenposten des Vorgartens urbar und veröffentliche für dich meine Isendal-Geschichte, von der du schon mehr gelesen hast als dir klar war, denn einige Minnen (1-2-3-4-5-6-7-8) wurden natürlich auch dort vorgetragen.

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