Samstag, 3. Juli 2010

Das Fraktal

Das ist mir in den letzten Tagen wichtig gewesen.


Mack folgte Sarayu, so gut er es vermochte, zur Hintertür hinaus und den von Tannen gesäumten Pfad entlang. Hinter einem solchen Wesen herzugehen war, als versuche man, einem Sonnenstrahl zu folgen. Das Licht schien durch sie hindurchzuschimmern und dann ihr Bild an vielen Orten gleichzeitig widerzuspiegeln. Sie war von ziemlich ätherischer Natur, ihr Äußeres ein schwer fassbares Etwas aus dynamischen Schattenreflexen und Farbenspielen. „Kein Wunder, dass so viele Menschen sich mit dem Heiligen Geist schwer tun“, dachte Mack. „Sie ist offensichtlich nicht sehr berechenbar.“
Mack konzentrierte sich stattdessen darauf, den Pfad im Auge zu behalten. Hinter den Bäumen tauchte ein Garten auf, der dafür, dass er kaum mehr als ein Morgen Land umfasste, wunderbar und großartig wirkte. Mack hatte einen perfekt gepflegten und geordneten englischen Garten erwartet. Doch weit gefehlt! Hier herrschte ein farbenfrohes Chaos. Seine Augen versuchten vergeblich, eine Ordnung in dieser himmelschreienden Missachtung jeder Gewissheit zu finden. Bunt leuchtende Blumendickichte mischten sich wild mit wie zufällig gepflanzten Gemüsen und Kräutern, die so exotisch waren, dass Mack sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Es war verwirrend, überwältigend und unglaublich schön.
„Von oben gesehen ist es ein Fraktal“, sagte Sarayu über ihre Schulter hinweg, mit spürbarem Wohlgefallen.
„Ein was?“, fragte Mack geistesabwesend. Er war vollauf damit beschäftigt, dieses wilde Chaos von Farbe, Licht und Schatten geistig zu bewältigen. Jeder Schritt, den er in dem Garten tat, veränderte alle Muster, die er im Augenblick zuvor erblickt hatte, sodass er das Gefühl hatte, jedes Mal alles völlig neu zu sehen.
„Ein Fraktal… etwas, das einfach und geordnet wirkt, aber eigentlich aus einer wiederkehrenden Folge von Mustern besteht und nahezu unendlich komplex ist. Ich liebe Fraktale, und deshalb verwende ich sie überall."
„Für mich sieht es wie ein ziemliches Durcheinander aus“, stöhnte Mack.
Sarayu blieb stehen und drehte sich mit leuchtenden Augen zu ihm um. „Mack! Danke! Was für ein wunderschönes Kompliment!“ Sie blickte im Garten umher. „Genau das ist es – ein Durcheinander. Aber“, sie schaute wieder Mack an und lächelte strahlend, „es ist trotzdem auch ein Fraktal.“


aus „Die Hütte“ von William Paul Young, Kap 9, S. 146-147, Allegria Verlag 2009

1 Kommentar:

  1. Ich war von dem Buch stiltechnisch nicht besonders begeistert, was den Lesegenuss etwas getrübt hat. aber diese Stelle fand ich großartig. Yay für Fraktale! :)

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Nur Mut. So ein Kommentarfeld beißt nicht.