„Darf ich mich setzen?“, fragt die ältere Dame den kleinen Jungen, der sich mit seinen Spielzeugautos und dem Karton auf der Bank breit gemacht hat. Sie kennt sich nicht mit Kindern aus, aber sie glaubt nicht, dass er schon in die Schule geht.
Der Junge stopft die Autos in die Taschen seiner Jacke und zieht den Kasten zu sich.
„Dankeschön“, sagt die Frau und lässt sich nieder. Sie hat Erde an den Fingern und putzt den Dreck mit einem Taschentuch ab.
In dem Karton sind ein paar gelbe Blumen, ein Beutel Rindenhäcksel und ein buntes Plastikwindrädchen.
Eine Weile passiert nichts. Kein Erwachsener kommt den schmalen Weg entlang und holt das Kind oder den Karton (oder beides) ab.
Sie schaut den Jungen von der Seite an. Traurig wirkt er. Da kramt sie in der Handtasche und hält ihm ein rosa eingewickeltes Bonbon hin. „Himbeerdrops. Magst du eins?“
Der Junge schüttelt bloß den Kopf.
„Bist du denn ganz alleine hier?“
Kopfschütteln.
Jetzt kommt ein Mann den Weg entlang gelaufen. Schon aus einigen Metern Entfernung ruft er dem Jungen etwas zu, das die Frau nicht verstehen kann.
Er hält neben der Bank an, der Junge streckt die Arme nach ihm aus, er drückt ihn an sich und streicht ihm über den Kopf. Dann setzt er sich auf das freie Bankende und hält den Kleinen auf seinem Schoß fest. Noch immer sagt er ihm liebevoll fremde Worte.
„Danke, dass Sie ein bisschen bei ihm gesessen haben“, wendet der Mann sich nun an die Frau.
„Bitte.“ Er trägt Arbeitskleidung, sie liest den Schriftzug auf der Brusttasche. Es ist ein Elektriker-Betrieb, aber der Name sagt ihr nichts.
„Wie heißt du denn?“, fragt sie den Jungen. Der zieht den Reißverschluss der Jacke auf und verkriecht sich darin.
„Er spricht nicht gerne deutsch, weil die anderen Kinder ihn nicht verstehen und auslachen. Zuhause haben wir nur polnisch geredet“, erklärt er. „Wir haben darüber nicht nachgedacht.“
„Es ist ja viel einfacher, zuhause die Muttersprache zu reden, wenn man sich den ganzen übrigen Tag auf deutsch verständigen muss“, sagt die Frau.
Jetzt guckt er sie das erste Mal richtig an. Sie ist älter als er, bestimmt zwanzig Jahre. Sie hat ein freundliches Gesicht, die schmale Brille balanciert auf der Nasenspitze. Ihre schwarzen Locken hat sie zum Zopf gebunden. Sie trägt einen lila Schal zum roten Mantel und es steht ihr gut.
„Ja, da haben Sie recht.“ Er krault dem Jungen den Kopf.
„Wie alt ist Ihr Sohn? Er ist doch Ihr Sohn, oder?“
Sein Lächeln lässt ihn jünger aussehen. „Ja, das ist er. Marek wird vier.“ Nach einer Pause sagt er: „Aber er hat eine schwere Zeit. Wir sind ja nicht zum Spaß hier.“ Er nickt zu dem Karton hin.
„Seine Mama? Ihre Frau – oh, das tut mir leid“, murmelt sie.
Der Mann hebt die Schultern und zieht eine Grimasse. „Für mich ist es … seltsam. Wir hatten nur noch Streit. Wir wollten uns trennen. Allerdings lebend. Sie ist vor fünf Wochen von einem Bus überfahren worden. Am Rathaus. Vielleicht haben Sie es in der Zeitung gelesen. Ich vermisse die Frau, die ich früher geliebt habe. Aber die habe ich auch vorher schon vermisst. Es ist schwierig.“
Auf einmal muss sie es sagen: „Ich heiße Klara.“
„Zbyszek“, stellt er sich auch vor und das, was sonst immer bei Deutschen passiert, passiert dieses Mal nicht. Sie fragt nicht „Wie?“
Sie lächelt und sagt: „Zbyszek. Das ist ein guter Name.“
„Warum?“
„Mein Vater hatte früher einen Gesellen, der hieß auch Zbyszek. Er hat mir immer Bonbons mitgebracht, wenn er seine Eltern in Polen besucht hatte.“
„Was für einen Betrieb hatte Ihr Vater?“
„Er war Maurer. Aber das ist viele Jahre her.“
Auf einmal streckt der Junge seinen Arm aus der Arbeitsjacke hervor.
Klara versteht gleich, was er will und legt das Bonbon in die kleine Hand.
„Danke“, sagt Zbyszek lächelnd, „Das ist lieb von Ihnen. Jetzt müssen wir leider los.“ Er sagt seinem Jungen etwas, der kommt aus der Jacke gekrochen und beide stehen auf.
„Gibst du mir das Papier? Ich werfe es weg“, bietet sie an.
Scheu guckt er zur Seite, aber die knisternde Verpackung gibt er ab.
„Danke“, sagt Zbyszek noch einmal. „Auf Wiedersehen.“
„Gerne“, sagt Klara.
Er klemmt sich den Karton unter den einen Arm, die andere Hand hält er seinem Sohn hin und gemeinsam gehen sie den Weg entlang zu den Urnengräbern.
zu: Toxische Liebe
vor 3 Tagen
Jetzt hat sie es also getan.
AntwortenLöschenEine Geschichte mit einem Zbyszek geschrieben.
(Ankündigung letzten März: http://die-beste-juppi.blogspot.com/2014/03/das-fuballbuch-hacke-spitze-tor.html?showComment=1395961136772#c8483370899312118573)
Jetzt bin ich traurig...
AntwortenLöschensei nicht traurig.
LöschenDie Kg wird Grundstein für eine etwas längere Angelegenheit. Du hast ja hier nur durch ein Fensterchen auf die Figuren geguckt.
Ich stoße nicht das Fenster auf, sondern gleich die ganze Wand.
...bin noch in der Entwicklung...